Was bedeutet Aufarbeitung?
Die deutsche Kolonialzeit ist seit mehr als 100 Jahren vorbei. Doch erst seit der Jahrtausendwende wird öffentlich darüber diskutiert, welche Verbrechen damals begangen wurden und welche Auswirkungen diese bis heute haben – sowohl in Deutschland als auch in den ehemals besetzten Gebieten.
Diskutiert wird heute auch, wie wir mit diesem Teil unserer Geschichte in Zukunft umgehen wollen. Denn die Spuren des Kolonialismus sind auch in Deutschland noch immer sichtbar, auch wenn sie im Alltag nur von wenigen Menschen wahrgenommen werden: Sollen zum Beispiel Denkmäler in unseren Parks stehenbleiben, obwohl die dargestellten Personen nachweislich Verbrechen begangen haben? Was soll in Museen mit den Schädeln von Afrikanern geschehen, die von deutschen Kolonialsoldaten getötet wurden?
Eine solche Aufarbeitung hat bisher in Deutschland für die Kolonialzeit noch kaum stattgefunden. Ein Grund: Lange Zeit stand im Vordergrund die Aufarbeitung der Verbrechen, die während des Zweiten Weltkriegs und der gesamten Nazizeit (1933-45) von Deutschen begangen wurden.
Die deutsche Kolonialzeit wurde im Vergleich dazu häufig verharmlost und nur wenig erforscht. "Lange haben wir uns in Deutschland der Illusion hingegeben, wir seien aus der Kolonialzeit mit einem blauen Auge davongekommen, die deutsche Kolonialzeit sei zu kurz gewesen, um wirklich großes Unheil anzurichten", sagte Staatsministerin Michelle Müntefering 2020 im Bundestag.
Doch das ist ein Irrtum. Auch in den deutschen Kolonien waren massive Gewalt und Ausbeutung an der Tagesordnung, und viele deutsche Kolonialherren begingen schwere Verbrechen.

Deutsche Soldaten kämpfen gegen afrikanische Hereros
Inzwischen wird über diese Themen häufiger gesprochen: in Schulen, in der Öffentlichkeit, im Privaten – und auch vom Staat. 2018 vereinbarte die deutsche Regierung offiziell, die Kolonialvergangenheit aufzuarbeiten. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD hieß es: "Wir wollen die kulturelle Zusammenarbeit mit Afrika verstärken und einen stärkeren Kulturaustausch befördern, insbesondere durch die Aufarbeitung des Kolonialismus sowie den Aufbau von Museen und Kultureinrichtungen in Afrika."
Davor war das nur in Einzelfällen geschehen, zum Beispiel bei der Aufarbeitung des Völkermordes an den Herero und Nama (1904-1908) im heutigen Namibia. Die Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland zogen sich über Jahre hin, bis Deutschland 2021 schließlich offiziell den Völkermord anerkannte und um Entschuldigung bat – mehr als hundert Jahre nach den Ereignissen, bei denen Zehntausende Afrikaner getötet wurden.
Inzwischen fordern auch andere ehemalige Kolonien, etwa Tansania, Kamerun oder Burundi, eine Aufarbeitung der Verbrechen der Deutschen.
Beispiel: Umbenennung von Straßen
In den vergangenen Jahren wurden in Deutschland einige Straßen und Plätze umbenannt, die die Namen von Kolonialverbrechern trugen. Beispiele sind die Düsseldorfer Lüderitzstraße, die nach dem ersten Kolonialherren in Namibia Adolf Lüderitz benannt war, oder die Petersstraße, benannt nach dem brutalen Kolonialisten Carl Peters.

Manche Straßen, die nach Kolonialverbrechern benannt sind, werden umbenannt
Solche Umbenennungen sorgen oft für hitzige Diskussionen in der Bevölkerung. Doch letztlich findet nur bei einem sehr kleinen Teil der Fälle tatsächlich eine Änderung statt: In Köln zum Beispiel, Deutschlands viertgrößter Stadt, werden seit 2021 Straßennamen daraufhin geprüft, ob sie einen Bezug zur Kolonialzeit oder zur Nazizeit haben und wie damit umgegangen werden soll. Bislang wurde lediglich bei drei Straßen eine Umbenennung beschlossen.
Gegner der Namensänderungen halten es für sinnvoller, die alten Namen beizubehalten und eine erklärende Informationstafel hinzuzufügen. So werde die Geschichte der jeweiligen Personen nicht ersatzlos gestrichen, sondern für alle erkennbar in ihren historischen Zusammenhang gesetzt.
Beispiel: Raubkunst aus den Kolonien
Seit einigen Jahren erforschen auch deutsche Museen, unter welchen Umständen manche ihrer Ausstellungsstücke während der Kolonialzeit nach Deutschland kamen. Besonders in den völkerkundlichen (ethnologischen) Museen liegen viele Stücke aus den ehemaligen Kolonien, darunter auch menschliche Leichenteile wie Schädel oder andere Knochen.
Dabei geht es auch um die Frage, ob manche Objekte an ihre Ursprungsländer zurückgegeben werden sollen, was als wichtiger Schritt in der Aufarbeitung des kolonialen Erbes gilt. Einige Museen haben bereits damit begonnen. Doch dies wirft manchmal neue Probleme auf: Wer soll die Gegenstände bekommen? Die ursprünglichen Besitzer leben natürlich inzwischen nicht mehr. Wer hat also jetzt ein Mitspracherecht? Sollen die Regierungen der Herkunfts-Staaten entscheiden? Aber was, wenn die beraubte Gruppe bis heute eine Minderheit im eigenen Staat ist und deshalb bei der Rückgabe übergangen wird?
Kunst aus den ehemaligen Kolonien
Planet Wissen. 08.05.2023. 03:18 Min.. Verfügbar bis 23.06.2027. WDR. Von Tim Evers.
Ein prominentes Beispiel sind die so genannten Benin-Bronzen: eine Gruppe von Tier- und Menschenfiguren aus Bronze, Messing und Elfenbein, die 1897 aus dem heutigen Nigeria von den britischen Kolonialherren nach Europa gebracht wurden. Deutsche Museen kauften mehrere dieser Bronzen. 2022 gab Deutschland die Stücke an Nigeria zurück. Allerdings wurde 2023 bekannt, dass der nigerianische Präsident die Objekte dem Oberhaupt der früheren Königsfamilie geschenkt hat. Somit werden sie nicht, wie bisher geplant, dem nigerianischen Volk zugänglich gemacht. Diese Entscheidung ist weltweit auf große Kritik gestoßen.

2022 gab Deutschland die berühmten Benin-Bronzen an Nigeria zurück
Aufarbeitung in anderen europäischen Ländern
Auch andere europäische Länder, die früher Kolonien besaßen, versuchen die Verbrechen jener Zeit inzwischen aufzuarbeiten.
Großbritannien war das größte Kolonialreich der Geschichte (British Empire) und herrschte zeitweise über ein Fünftel der Erde. 2013 drückte die britische Regierung ihr Bedauern über das Massaker von Amritsar in Indien aus, bei dem 1919 Hunderte von Zivilisten getötet wurden, die für mehr Freiheit demonstrierten. Ebenfalls 2013 wurden 5.000 Kenianer finanziell entschädigt, die während der Kolonialzeit misshandelt und gefoltert worden waren. Im Juni 2020 stürzten Anti-Rassismus-Aktivisten in Bristol das Denkmal von Edward Colston, einem der größten Sklavenhändler der britischen Kolonialgeschichte, in ein Hafenbecken. Dies fachte die gesellschaftliche Diskussion über die koloniale Vergangenheit neu an.
Frankreich bekannte sich bereits im Jahr 2001 offiziell zu seiner Schuld im Algerienkrieg (1954-1962), bei dem Hunderttausende Menschen ums Leben kamen und der nach wie vor ein emotional stark aufgeladenes Thema in der französischen Gesellschaft ist. Die Rückgabe von Kulturgütern ist in Frankreich inzwischen schon weiter vorangeschritten als in anderen Staaten.
In Belgien wird besonders die Geschichte des Kongo diskutiert, der 75 Jahre lang belgische Kolonie war und mit brutaler Gewalt beherrscht wurde. Von 1885 bis 1908 befand sich das Land sogar im Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II.. Bis zu zehn Millionen Kongolesen wurden ermordet oder starben an den Folgen der Ausbeutung durch die belgischen Kolonialherren.
2020 entschuldigte sich der belgische König Philippe als erstes belgisches Staatsoberhaupt für die Kolonialverbrechen in Kongo. Zudem hat Belgien damit begonnen, Statuen von Kolonialisten wie Leopold II. aus öffentlichen Parks zu entfernen.

Protest in Farbe: Das Denkmal für König Leopold II. in Brüssel wurde 2025 mit roter Farbe bespritzt – ein deutliches Zeichen gegen die koloniale Vergangenheit Belgiens
(Erstveröffentlichung 2025. Letzte Aktualisierung 12.05.2025)
FACHBERATUNG
Prof. Jens Jäger
Historisches Institut, Universität zu Köln
UNSERE QUELLEN
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Deutsche Kolonialgeschichte. Koloniale Spuren im städtischen Raum"
- Schulen: Partner der Zukunft: "Politik und Geschichte. Koloniale Spuren in Deutschland"
- Deutsche Welle: "Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte"
- Deutsche Welle: "Wie läuft die Kolonialismus-Aufarbeitung?"
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Völkermord an Herero und Nama: Abkommen zwischen Deutschland und Namibia"
- Tagesspiegel: "Neue Initiative für Provenienzforschung. Deutschland, Frankreich und die koloniale Beute"
- Staatliche Museen zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz: "Ethnologisches Museum"
- Deutsche Welle: "Nigeria verschenkt Benin-Bronzen an Oba Ewuare II."
- Deutsche Welle: "Streit um Schädel"
- Michelle Müntefering: "Zur Aufarbeitung des Kolonialismus"
- WDR Lokalzeit: "Wenn Straßen Geschichte schreiben: Besondere Umbenennungen in NRW"
Quelle: WDR